Kommentierte Werke


"Watching the River Flow"
von Markus Josef Maier


 
 
 
Die Zeitspanne ab Herbst 2005 markiert eine neue Phase in der Malerei Christian Stichters. Hier entsteht eine lange Reihe hauptsächlich mittel- bis großformatiger Ölbilder, packend kraft ihrer Synthese aus Wucht und Empfindsamkeit. In diesem Text werden einige dieser Arbeiten vorgestellt, um das inhaltliche Spektrum, die Bildsprache und die Arbeitsweise des 1954 in Sondermoning/Chiemsee geborenen Künstlers zu beleuchten. So interessant es auch wäre, ihre Position im Hinblick auf die Kunstgeschichte zu untersuchen, so unmöglich ist das in diesem Rahmen. Außerdem können zur Interpretation nur wenige subjektive Gedanken eingestreut werden; zu sehr verweigern sich die Gemälde plakativen oder gar erschöpfenden Deutungen. Da aber bei der Kunstbetrachtung generell nicht nur Inhalte zählen, sondern auch die Wunderwelt der Farben und Formen, dürften diese Einschränkungen nicht übermäßig ins Gewicht fallen.

In den englischen Einsprengseln wird der kundige Leser Songtitel Bob Dylans wiedererkennen. Wenn es um das Werk des „Dylanologen“ Stichter geht, sind sie nicht fehl am Platz (vgl. oben), verstehen sich jedoch lediglich als assoziative Beigaben. Zu den entsprechenden Liedtexten vgl. Carl Weissner/Walter Hartmann: Bob Dylan. Songtexte 1962–1985, Frankfurt 1987.

„Playboys and Playgirls”

In seinem jüngsten Schaffen erweist sich Stichter – wie früher schon – als leidenschaftlicher und kompromissloser Menschenmaler: Kurz gesagt werfen seine variantenreichen Brust-, Halb- und Ganzfigurenbilder grundsätzlich die Frage auf: Was heißt es für den Einzelnen, im Schiff des Lebens dahinzutreiben, sich in den Stromschnellen des Daseins behaupten zu müssen? Aspekte und Antworten erschließen sich jedoch nicht im Vorbeigehen. Zu gedankenreich und gefühlsschwer ist Stichters Malerei, glücklicherweise ohne sich geheimnis- oder wichtigtuerisch abzuschotten. Kleine Hilfen bleiben dem Betrachter nicht versagt. So eröffnen ihm oft gleichermaßen interpretationsfähige Bildtitel ein Feld inhaltlicher Entdeckungen. Diese lapidaren Beischriften, die bisweilen Teil der Bildsprache sind, erscheinen hier als originale, teils ironische und wortspielerische Erfindungen („Rot ist die Farbe der Tiefe“); sie beziehen sich dort auf Biblisches und Literarisches („Noli me tangere“, „Mädchen ohne Eigenschaften“) oder rufen bekannte Titel der Kunstgeschichte in Erinnerung („Schlafende Venus“, „Mona schaut so blöd wie Lisa“). Auffallend oft knüpfen sie indessen Verbindungen zur Musik („Venezianische Serenade“, „Lass es bluten“). Dies offenbart zum einen Stichters musisches Koordinatensystem; insbesondere die Prägung durch Blues, Jazz und Rock sowie deren Bedeutung als Daseinsgrund und Lebenselement, als Bezugspunkt und Inspirationsquell. Zum andern ermutigt der Maler seinen Betrachter so dazu, sich von der Wirkungsmacht der Rhythmen und Klänge mitsteuern zu lassen.
Ein bestimmter Musiker taucht besonders häufig auf, sei es in Form von Anspielungen auf seine Titel oder als Konterfei. Gemeint ist Bob Dylan.

„Standing on the Highway”

An Musikerportraits erprobt Stichter immer wieder einmal sein künstlerisches Instrumentarium. Seinem launischen Hausgott Dylan widmet er ein Bildnis, das diesen en face vor nachtschwarzem Fond zeigt. Ins gestauchte Hochformat wie in ein Prokrustesbett gezwängt, erscheinen Brust und Haupt beunruhigend nah herangerückt. Körperausschnitt, Haar und Hintergrund verschmelzen zu einer Art erstarrter, zerfurchter Lavamasse. Wie aus Löschkalk und Magma modelliert leuchtet das Knittergesicht des Folkveterans aus dieser koloristischen Unterwelt hervor. Zugleich steht es im Schein einer undefinierbaren, grellen Lichtprojektion von außen. Graufelder und violette Schlieren verklammern die auseinanderklaffenden Zonen. Besonders verstörend wirkt ein außermittiger, vertikaler Farbstreifen vom Kinn Dylans zum unteren Bildrand. Braun, Weiß, Gelb und blutiges Rot – als hätte man den Thorax mit zwei brutalen Schnitten aufgetrennt oder als säße der Kopf auf einem fragilen Schlot, durch den das Gehirn aus dem Körperinnersten befeuert wird.
Was in diesem Gemälde an konstruierter oder durch Schattierungen vorgetäuschter Raumtiefe nicht vorhanden ist, wird mittels eines massiven Farbauftrags hergestellt. In einem unentwirrbaren Malprozeß baut sich mehr und mehr ein schrundig-rissiges Relief aus zähen Massen und freigelegten Partien auf. Unnachgiebig und vehement traktiert Stichter die Leinwand mit immer neuen Lasuren, Schichten oder Farbabnahmen, verdichtet und steigert so Ausdruck und geistigen Gehalt.
Dem Blick eines Opfers aber auch eines Lauernden sieht sich der Betrachter gegenüber, einem vom Leben Zurechtgemeißelten und einem Unerschütterlichen. Die frühere Protestwut, die Brüche und Niederlagen Dylans sind ebenso eingegraben in dieses nervöse Antlitz wie sein inzwischen erprobter Gestus des gelassenen, gütigen Großvaters, in dem der Vulkan des Lebens noch lange nicht erloschen ist.

„All along the Watchtower”

Auch die Bildnisse Ignaz Köglers atmen die seelisch-mentale Kraft einer besonderen Persönlichkeit.1 Das ist nicht selbstverständlich. Die Vorlage, auf die sich Stichter für dieses fiktive Portrait stützen konnte, stellt die Physiognomie des aus Landsberg gebürtigen Chinamissionars (1680–1746) eher typenhaft-glatt vor. Ein von dieser Zeichnung wohl abhängiges Gemälde im Neuen Stadtmuseum Landsberg formt die Züge schon etwas konkreter, stellt aber seinerseits eine Interpretation dar. Beide verlassen sich hauptsächlich auf Attribute, die Kögler in seinem Studierzimmer als christlichen Ordensmann und sternenkundigen Mandarin charakterisieren2. Um fernöstliches Flair herbeizuzaubern, statteten ihre Schöpfer den Portraitierten auch mit Phantasie-Reqisiten aus: mit einem pflanzlich gemusterten Überwurf und einem (orangefarbenen) Hut in Form eines Kegelstumpfs.3
In drei mittelformatigen Versionen4 – auch dieses Neuansetzen ist bei ihm öfter zu finden – nähert sich Stichter dem Erscheinungsbild des Jesuiten an. Überzeugend varianten- und aspektreich arbeitet er die Ausstrahlung eines Menschen heraus, der es auf erstaunliche Weise vermochte, sich in einer fundamental fremden Welt zu behaupten und sich als Wissenschaftler dauerhaft hohes Prestige zu sichern. Dabei vertraut der Maler ganz auf die Eindringlichkeit des groß gesehenen Brustbilds und auf das Deutungspotential des Hintergrunds. Astronomische Gerätschaften fallen ebenso weg wie Soutane und Kruzifix. Letztlich ist es nur die Kopfbedeckung, die bei diesem Bärtigen mehr oder weniger direkt auf Kögler hinweist. Wie das Fernrohr des Astronomen auf das Firmament, so ist das künstlerische Objektiv Stichters auf den Kosmos des Antlitzes gerichtet – mit seinen Spuren, die harte Lebensumstände, zehrendes Forschen und sisyphelisches Raissonnieren hinterließen. Dies ist kein smarter Globalspezialist unserer Tage. Kögler, der sich als Diener dreier Herrn – des Jesuitengenerals, des Papstes und des Kaisers von China5 – seiner geistigen Hoheit nicht ohne weiteres sicher sein konnte, zeigt sich als sperriges Individuum: in einer Version handfest und majestätisch-ernst sinnierend, in den beiden anderen Fassungen wie ein von vielfältigen Anfechtungen gezeichneter Leidender. Aus allen drei Mienen scheint zudem eine tiefe Skepsis des eigenen Auftrags zu sprechen, der darin bestand, die Chinesen mit Hilfe europäischer Wissenschaft zu christianisieren; als könne der Gelehrte das baldige Scheitern dieser Mission bereits erahnen.6
Köglers rätselhafter orangener Beamtenhut scheint ihm ebenso drückende Last wie Hoheitszeichen zu sein, sein Gewand projiziert innere Gesichte und Aufgewühltheit nach außen. Ähnlich – und zugleich sachbezogen – wirkt der Hintergrund. Einmal ist das Schwarz eines nächtlichen Firmaments überzogen mit Schwärmen bläulich-kühler Flecken wie mit Ausflüssen einer von Resignation gespeisten Melancholie. Ein andermal erzeugt die Farbe zusammen mit der des Hutes die Wirkung solarer Hitze, interpretierbar als Zeichen glühender Geistesanstrengung. In allen Fassungen ist Köglers Antlitz von einer unfassbaren Kraft erfüllt, die man bei den älteren Portraits vegebens sucht.

1Zum Leben und Werk des Jesuitenpaters vgl. Christian Stücken: Gott und den Sternen. Vom Leben des Chinamissionars Ignaz Kögler SJ (1680–1746); Christian Stücken: Der Mandarin des Himmels. Zeit und das Leben des Chinamissionars Ignaz Kögler SJ (1680 - 1746), Nettetal 2003.
2Zur genannten Federzeichnung vgl. Anton Lichtenstern in einem Informationsblatt des Ignaz-Kögler-Gymnasiums Landsberg. Auf diese Arbeit geht wohl das posthume Bildnis Köglers im Neuen Stadtmuseum Landsberg zurück.
3Der Überwurf ist als solcher (und wohl auch vom Muster her) im China des frühen 18. Jahrhunderts nicht gebräuchlich. Auch die Hutform entbehrt der Authentizität. Die Kopfbedeckungen der Beamten vom Rang Köglers – Sommer- wie Wintervariante – waren raffinierter aufgebaut und hatten als Bekrönung eine Art Perlenknauf. Für kostümkundliche Hilfe danke ich herzlich Frau Dr. Helga Stahl und Herrn Prof. Dr. Dieter Kuhn vom Lehrstuhl für Philologie des Fernen Ostens der Universität Würzburg.
4Eine vierte, großformatige Version hat Stichter – quasi als Synthese dieser drei – für die Aula des Ignaz-Köger-Gymnasiums Landsberg erarbeitet.
5Gedanke von Stücken, wie Anm. 1.
6Die jüngere Forschung weist klar auf diverse Fehler und Schwächen der „Propagatio fidei per scientias“ hin, die schließlich zur Ablehnung westlicher Wissenschaft und Religion führten. 1744 mußten die Jesuiten China endgültig verlassen. Vgl. Dagmar Schäfer: Matteo Ricci, der gelehrte Missionar, in: Spektrum der Wissenschaft, September 2006, S. 88–97.

„Like a Rolling Stone”

Häufiger als Bildnisse oder portraithaft gedachte Werke sind bei Stichter anonyme Menschenbilder mit allgemeinerem Charakter. Zu diesem Schaffensbereich gehört die Arbeit „Wertvolle Frau (geschmeidig)“. Die frontale Halbfigur der jungen Dame füllt das stehende Format in Höhe und Breite fast voll aus. Hängende Arme, ein leicht geneigtes Haupt und geschlossene Augen geben ihr den Anschein einer in sich Versunkenen, die sich eher gezwungenermaßen noch aufrecht hält. Dementsprechend hebt sich ihr nur mittels großer Flecken definierter Körper kaum vom finster-grünen Hintergrund ab und ihr schwarzes Kraushaar ist wolkenhaft in diesen eingewoben. Die rinnende Farbe des Fonds ergießt sich über die Sinnende und lässt diese noch hilfloser erscheinen. Irritierend setzten sich zwei farbliche Irrläufer in Orange und Gelbgrün wie ein Stigma auf der linken Stirnhälfte fest. Indizien für eine hellere Gedankenwelt? Noch stärker im Gegensatz zur übrigen drückenden Stimmung bewegen sich mehrere in Unordnung geratene Halsketten, die die Brüste größtenteils verschleiern aber auch modellieren. Man weiß nicht genau: Sind sie eher heiterer Schmuck, modischer Tand oder Ballast? Hat der Titel in diesem Zusammenhang eine Bedeutung?
Die geheimnisvolle Wirkung des Bildes verdankt sich nicht nur dem Gegenstand und dem teils düsteren, teils fahlen und in Anklängen warmen bzw. leuchtenden Kolorit. Auch der hartnäckig vorangetriebene Farbauftrag verfehlt seine Wirkung nicht. Zwischen lasiert und pastos, zwischen großflächig und kleinteilig ist dessen Spannweite angelegt. Sie bringt einen Facetten- und Schichtenreichtum hervor, der als solcher für den Betrachter anregend sein kann. Man ist an Zustände in der Natur erinnert wie sie den Bildhauer Auguste Rodin inspirierten7 und wie sie der Romancier Walter Scott einmal empfindsam beschrieben hat: „Hunderte breitwipfliger, kurzstämmiger und weitverzweigter Eichen […] streckten ihre knorrigen Arme über den dicken Teppich des frischen grünen Rasens. An einigen Stellen waren sie mit Buchen, Stechpalmen und dem verschiedenartigsten Gestrüpp so dicht verwachsen, daß sie den waagerechten Strahlen der untergehenden Sonne Halt geboten, dann wieder traten sie breit auseinander und bildeten jene verschlungenen Baumalleen, in deren Verworrenheit sich das Auge so gern verliert, während die Phantasie Wege zu noch seltsameren Bildern der Waldeinsamkeit in ihnen vermutet.“8
Mit dieser Bildsprache gelingt Stichter Bemerkenswertes: Auf seine Weise amalgamiert er Momente aus der Malerei des späten Rembrandt9 mit der Malerei des 20. Jahrhunderts, hält so eine Balance zwischen Tiefgründigkeit und rotziger Gelöstheit. Wichtig ist dabei, dass der Betrachter bereits mit einem Blick ein inhaltliches Grundgerüst erkennen kann.

7Vgl. Ginger Danto: Rodin: Die erotische Inspiration durch die Natur, in: Rainer Crone/Siegfried Salzmann (Hg.): Ausstellungskatalog Rodin. Eros und Kreativität (Bremen/Düsseldorf 1991/1992), München 1991, S. 197–206.
8Aus „Ivanhoe“, übersetzt von Christine Hoeppener, Berlin 1978, S. 8.
9Vgl. etwa Familienbildnis, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, um 1668/69.

„Love minus Zero“

Sich der „Schlafenden Venus“ anzunähern, ist ungleich schwerer. Zwar offenbart sich die Komposition wiederum klar und an der Mittelachse orientiert. Doch werden von der Figur nur noch Fragmente geliefert, Körperteile oder entsprechende Versatzstücke mit unsicherer Zuordnung. Offensichtlich spielt Stichter hier mit zwei berühmten Gemälden des 16. Jahrhunderts. Solche Rückgriffe erstaunen keineswegs bei einem „pictor doctus“, einem Künstler, dessen Bibliothek das Spektrum der menschlichen Figur in der Kunst reflektiert – von eiszeitlichen Idolen zu Polyklet und weiter bis über Beuys hinaus. Da Stichters Bild besonders auch aus dem spannungsreichen Bruch mit den Vorbildern lebt, lohnt ein kurzer Blick auf diese.
„Schlafende Venus“ – so hat die Kunstgeschichtsforschung ein gestrecktes Querformat betitelt, das dem Festland-Venezianer Giorgone10 zugeschrieben wird. Im Vordergrund lagert die nackte Göttin „reizend ermattet“.11 Sie ist angeordnet auf einer sanften Schräge von der linken Mittelzone nach rechts unten. Ihr auf graue und rote Decken gebetteter Körper kehrt sich leicht zum Betrachter hin. Das anmutig-stille Haupt präsentiert sich frontal, ruhend im nach hinten umgelegten rechten Arm. Die linke Hand hat Giorgione prominent in Szene gesetzt: angeordnet auf der Mittelsenkrechten bedeckt sie die Scham der Liebesgöttin. Übereinander geschlagene Beine komplettieren die züchtige Geschlossenheit der Figur. Ruhe wie über der Schlafenden liegt auch über der gedämpft farbigen Landschaft, die sich mit ihren Erhebungen, spärlichen Bauten und Bäumen weit nach hinten an ein verblauendes Gebirgsmassiv erstreckt. Ein anderer Venezianer, Tizian, schuf in Anlehnung an dieses Gemälde seine „Venus von Urbino“.12 In Position und Haltung entspricht sie weitgehend der ersteren. Jedoch fixiert diese mit geneigtem Haupt den Betrachter. Außerdem stützt sie sich auf ihren rechten Arm; die Hand hält locker einige Rosen, wohl als Hinweis auf die Kräfte der Liebe.
Wie sieht das nun bei Stichter aus? Seine verschlossene Göttin narrt den Betrachter mit einem Vexierspiel, einbeschrieben in ein breites Hochformat: Ein zentraler blauer Kreis mit orangefarbenen Gesichtszügen unten (Kopf?), ein Feld blauer Ringe, ein grün-weißes, einhüftig gebogenes Feld darüber und daneben (Körper?), von diesem nach unten weisend und sich nach innen abwinkelnd ein rechter Arm mit Hand in Orange und Schwarz, eine weitere rechte Hand wie ein Schatten im linken oberen Eck – das ist der Formenbestand dieser „Landsberger Venus“. Als Folie dient ihr hauptsächlich ein tiefroter, oben blaugrau übermalter Hintergrund. Ansatzweise kombiniert aus beiden Vorläufern, hebt sich dieses Werk zugleich deutlich von jenen ab. Aus den um Grazie bemühten Aktfiguren wurde eine gesucht grobschlächtige Formenzusammenballung. Die leichte Schräglage der Göttinen steigert sich zu einer stürzenden Diagonalen. Aus der geschlossenen Kontur fließender Linien wurde ein fahriges Gebilde mit zerfressenen Umrissen. Die Honigsüße der venezianischen Farbigkeit wich Komplementärkontrasten (Rot/Grün, Blau/Orange), die jedoch nicht laut zum Tragen kommen, werden sie doch mittels Abtönungen gedämpft oder durch den Schwarzschleier links oben mit Düsternis infiziert. Statt dank eines hochfeinen, schmelzenden Farbauftrags zu betören, strotzt Stichters Schaumgeborene herausfordernd und aufrüttelnd von Farbkrusten verschiedenster Machart: hier kantige gelbe Brocken, gesetzt gegen einen grünweißen, rundkörnigen Brei; dort eine wächserne Oberfläche, Zonen wie Sandpapier oder körnig-seifige Textur. An manchen Stellen ist die gleichsam schwebende Farbe aus dem Handgelenk hingestrichen, an anderen opak aufgetragen. Schwindsüchtige Farbrinnsale folgen zittrig der Schwerkraft; andere, zähere, erstarren wie behäbige Eiszapfen.
Ist das alles blanke, von gewisser Bitternis getragene Freude am Zerlegen und Umschmieden? Oder wird hier – frei nach Goya – die Frage aufgeworfen: Welche Monster gebiert er, der Schlaf der Liebe? Womöglich ist es letzten Endes gerade die beim Spanier schlummernde Vernunft – symbolisiert vom blauen Kreis und seinen kringeligen Ausdünstungen –, die in diesem Bild als verderblich übermächtige Kraft problematisiert wird.

10Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, um 1508–1510.
11Goethe, Achilleis 133f.
12Florenz, Uffizien, um 1538.

„Saved“

Im übermannshohen „Großen Kreuz“ ist die bevorzugte Kompositionsweise Stichters mit einer Mittelsenkrechten und einer Waagerechten auf ihren Kerngehalt reduziert. Damit verbunden führte ihn sein Bedürfnis nach prägnanter Flächenaufteilung zu einem besonders klaren Ergebnis. Zugleich bleibt die Thematik „Mensch“ erhalten: der Balken dieses Kreuzes ist stark komprimiert, so dass sich durchaus der Gedanke an eine Figur einstellt. Dieser regt sich auch angesichts der Fleischtöne im feinstufigen und akzentreichen Farbkosmos dieses monumentalen Gemäldes.
Die Oberfläche des Bildes ist besonders reich an materiellen und farblichen Gegensätzen, die bis hin zu Ritzung und Collage mit großer technischer Bandbreite vorgetragen werden. Dergleichen birgt grundsätzlich die Gefahr, eine Bildfläche zu einem überfrachteten, effekthascherischen und letztlich zusammenhangslos-hohlen Sammelsurium zu degradieren. Hier ist das anders, weil es Stichter gelingt, die einzelnen Zonen zusammenzuschließen und eine beträchtliche, alles umfassende Spannung aufzubauen.
Diese diversen Oberflächenphänomene sind keineswegs formaler Selbstzweck. Sie haben ihre Bedeutung auch im Inhaltlichen, indem sie gedankliche Verknüpfungen provozieren. So erinnert ein Fetzen grober Leinwand in der Bildmitte konkret an das Lendentuch Christi wie auch weiterführend an die Schutz- und Hilflosigkeit des in die Welt geworfenen Individuums und somit auch an das Kreuzesmartyrium. Insbesondere in Stichters borkigem Inpasto liegen Deutungsmöglichkeiten verborgen. Einerseits veranschaulicht der schwere Überzug der Leinwand schon von seiner sinnlichen Erfahrbarkeit her treffend die Last des Daseins, des irdischen „Kreuzes“. Zum andern weckt die sich weit aufwölbende Zone strahlenförmiger Spachtelspuren im oberen Bereich Assoziationen an eine überdimensionierte, bedrohliche Dornenkrone. Zurückhaltend und doch bedrückend weist sie auf das Ausmaß von Schmerz und Erlösungswerk hin. Drittens – kaum spürbar, weil das Gemälde in sich voll stimmig ist – steht das Farbrelief des „Große Kreuzes“ für Stichters Bereitschaft (oder Besessenheit), einmal gefundene und eigentlich überzeugende Bildschöpfungen auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls in langen, kraftraubenden Arbeitsprozessen radikal umzuarbeiten. Dem gegenwärtigen Zustand des Bildes liegen mindestens zwei stark voneinander abweichende Versionen zugrunde, die beide ihre Spuren hinterlassen haben und die beide einen Teil zu dem um dunkle Tiefen wissenden Optimismus des Gemäldes beitragen. So ist das „Große Kreuz“ Stichters ein Argument für die originelle Ansicht Arnold Schönbergs, wonach der Begriff „Kunst“ nicht von Können, sondern von „Müssen“ herzuleiten sei.

„Mixed up Confusion”

Der Fluch grüblerischen und gestalterischen Herumirrens, den Schönbergs Spruch einschließt, prägt auch Stichters „Selbstportrait (approximativ) in wohligem Braun“. Fast formatfüllend toben Gewitterstürme aus Fleisch-, Weiß- und Schwarztönen in einem ovalen Feld, das von einem ruhigen Spiegel aus Rotbraun umgriffen, zusammengehalten, aber auch isoliert wird. Ein geisterhaftes Antlitz mit verkohltem Mund taucht auf. Weiße Zonen nackter grundierter Leinwand machen das Gesicht löcherig und instabil, muten an wie Lecks, durch die ein zerstörerischer Wind pfeift. Ein Haupt, gespannt in den Schraubstock der Bildränder, gebeugt, niedergedrückt. Der Kopf eines Menschen, der sich selbst als Fremder in der eigenen, brüchigen Haut wähnt. Erschütternde Formensprache und größtenteils beruhigende Farbigkeit halten sich jedoch die Waage. Der Schrecken ist gebannt. Dies bedeutet ein ähnliches Spannungsverhältnis wie beim „Großen Kreuz“. Und tatsächlich: Man könnte sich das Selbstportrait auf dieses montiert vorstellen, so sehr erinnert es im Ausdruck an den Gekreuzigten: Pinselhiebe vor der Stirn, die sich zu einem kronenartigen Geflecht summieren, rinnende Farbe wie Blutströme, der Ausdruck des Leidens. Auch diesbezüglich stellt sich Christian Stichter in eine Traditionslinie der Kunstgeschichte. Dem großen Vorbild Dürer folgten Maler wie Paul Gauguin oder der Wiener Richard Gerstl in der Selbstdarstellung oder besser: -stilisierung als gemarterter Heiland.13 Diese Annäherung an die Passion Christi ist oft zu verstehen als inbrünstiger Verweis auf die Qualen des einsam schaffenden und an der Welt verzweifelnden Künstlers.
Technisch trägt dieses Werk teilweise noch Züge der oben besprochenen. Zugleich treten Neuerungen auf. Schon die homogene, deckende Schicht in Rotbraun ist ungewöhnlich. Noch mehr verwundert die bis auf die Grundierung unbearbeitete Leinwand. Letzterer Aspekt ist bei den neueren Bildern ausgiebiger anzutreffen.

13Vgl. Klaus Albrecht Schröder: Ausstellungskatalog Richard Gerstl 1883–1908 (Wien/Zürich 1993/94), Wien 1993, S. 13–16, 48–51.

„Another Side...“

Am momentanen Endpunkt dieses Schwenks in der Malweise stehen Gemälde wie „Tanzendes Modell mit Zigarette II“. Leicht rechts von der Mittelachse erscheint frontal ein bräunlicher Frauenakt in ganzer Figur. Die Füße allerdings sind vom Rand überschnitten. Mit weit gespreizten Beinen geht die Tänzerin in die Hocke, wiegt ihren Rumpf nach links, neigt den kahlen, kugeligen Kopf gegensinnig. Das Gesicht bleibt maskenhaft verschlossen. Ihr erhobener rechter Arm ist in seiner Anordnung ein Echo der Beine. Er klingt aus in einer zeigerartig nach oben weisenden Zigarette, mit der die raumgreifende Offenheit des Konturs um eine Nuance gesteigert wird. Diese annähernd symmetrische Komposition durchbricht der andere Arm. Eng am Körper und nur leicht angewinkelt gehört er mit Haupt und Schulter zu einer Folge von Konvexformen, welche die Figur verfestigen. Grob und überdimensioniert bedeckt die linke Hand den Schoß der Frau. Der rissige Hintergrund ist in Graublau und Braun gehalten. Eine grauweiße Farbspur hebt die Figur rechts von diesem Umfeld ab. Davor umschwirren neun Lippenpaare mit schäbigen, aber bedrohlichen Zahnreihen die Nackte gleich einem gespenstischen Mobile. Es ist ein pulsierendes, surreales Panoptikum. Tanz – Bewegung im Raum – wo findet er statt? Man hat kaum eines der freizügigen Modelle vor sich, deren Körper der manische Menschenbildner Auguste Rodin in Schwärmen frivoler Zeichnungen hinwischte. Wie in einem Schaufenster einbetoniert ist das Modell in die Frontale gezwängt, in der Bildebene verspannt und von den ornamental angeordneten Mündern eingekesselt. Zweifelhaft bleibt dabei der Untergrund, auf dem sich die Frau bewegt. Die aufwärts strebende Rechte kollidiert mit dem oberen Bildrand; unentschieden bleibt die Linke, pendelt zwischen souverän-aufreizendem Spiel und schamhaftem Schutzsuchen. Auch die Münder haben ihre Ambivalenz. Sind es die Schandmäuler lüsterner Gaffer? Oder sind es die einst verführerischen Lippen des mundlosen Modells, verzerrt und heruntergekommen, gleich Abziehbildern vervielfältigt und zu einem höhnischen Rundtanz gruppiert?14 Die nervöse Dynamik der Darstellung verdankt sich nicht zuletzt dem Farbauftrag. Zwar ging Stichter auch hier mit dem beschriebenen kraftvoll-freien Malgestus zu Werke, aber ohne die Grundlage einer dicken, bewegten Farbkruste und ohne dass sich seine Pinselattacken, wie zuvor, zu einem farblichen Flecht- und Schichtenwerk summierten. Das Ergebnis ist eine vitale, grobmaschige Alla-prima-Malerei. Des öfteren liegt noch die makellose, maschinelle Grundierung der Leinwand frei – ein Faktum, das in Anbetracht der lange gehegten Überzeugungen Stichters geradezu grundstürzend anmutet. Recht ungewöhnlich für ihn ist auch die figural-inhaltliche Aktivierung des Figurenumfelds.

14Vgl. Andy Warhol, Marilyn Monroe’s Lips, Washington, Hirschhorn Museum, 1962. Auf zwei quadratischen Tafeln ist der Mund Monroes je 84-mal in Zeilen und Spalten angeordnet.

Dr. Markus Josef Maier
(aus Kunstgeschichtliches aus Landsberg am Lech; Nr. 40; 2007; ISSN 0931-2722)