1C.G. Jung, über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk. In: O. Hoppe, Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1977



2vgl. Tewes Wischmann,
Der Individuationsprozess in der analytischen Psychologie C.G. Jungs.




3vgl. auch: Tomasz Malyszek, Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs Deutung der Märchenstoffe. In: Orbis Linguarum Vol. 19/2002




4Dr. Markus Josef Maier in "Watching the River Flow"




5Walter Benjamin, Sonette. Suhrkamp 1986

Nacht-Wachen


Ausstellung im Gesprächsladen
Schweinfurt, November 2009
Rede von Oli Metzler


 
Ich bin weder Kunsthistoriker, noch Experte, noch Konservator oder sonst einer aus jenem erlauchten Kreis, dem herkömmlicherweise die Aufgabe eines Laudators bei einer Vernissage zufällt – meine Qualifikation besteht lediglich darin, dass ich mich zu den Freunden des Künstlers zählen darf, um den es heute gehen soll, und dass mir viele seiner Bilder gefallen. Darum bedurfte es von Seiten Christian Stichters schon einer gehörigen Portion Chuzpe, auf jemanden wie mich für eine Laudatio oder besser gesagt für ein paar einführende Worte für die Ausstellung im Gesprächsladen in Schweinfurt zu verfallen.
Ich will versuchen, das Beste daraus zu machen, will heißen, der Person Christian Stichter und seinen Bildern aus der Perspektive des Freundes, Kollegen und beflissenen Laien gerecht zu werden.

Ich kenne Christian Stichter als einen kompromisslosen Nonkonformisten, mithin eine Spezies, die unter Lehrern Seltenheitswert genießt: Ein eindrucksvoll Unverbogener, der überkommener Norm skeptisch die Stirn bietet und der mutig sich auch zu seiner Schutzlosigkeit bekennt. Gleichzeitig einer, der als unkonventioneller Traditionalist verblüfft und oft genug durch die Großzügigkeit seiner Bohème aneckt, von seinen Schülern aber als Option auf eine Lernerfahrung und als Aufforderung begriffen wird, dem Beispiel folgend, ihr unverwechselbares Selbst zu entdecken und zu behaupten.

Wer ihn besser kennt, der schätzt an ihm, dass er in allem sich der Aufrichtigkeit und Echtheit verpflichtet hat, und das beginnt bei der unverbrüchlichen Treue zur Jahrzehnte lang getragenen Lederjacke und führt über das offene Wort hin zur Haltung, in der sich fern vom Trend unverwechselbar die Persönlichkeit abbildet.
Und man erfährt Christian Stichter als jemanden, der Anteil nimmt und seine Fähigkeit zur Empathie aus selbst erlittenen Lebenserfahrungen schöpft, oft auch Quelle der Schwermut und Pforte ins dunkle Labyrinth der Depressivität.
Stichter ist aber auch ein großer Lehrmeister des Genießens: die handgerollte Zigarette, der kenntnisreiche Weinverstand, das ausschweifende Gelage, die Begeisterung für identitätsstiftende Musik. Und bewundern darf man ihn, weil ihm etwas Besonderes gegeben ist: Er vermag das alles und viel mehr in Bilder zu fassen, die in ihrer verunsichernden Wildheit, anrührenden Tiefe und expressiven Kommunikationslust so unverwechselbar sind wie er selbst.

Stichters Bilder berühren, machen betroffen, lassen vielleicht auch ratlos zurück. Dem, der den Zugang zu ihnen sucht, mag ein Blick in den Prozess helfen, in dessen Verlauf seine Bilder sich ihren Weg auf die Leinwand bahnen, besser vielleicht brechen.
Stichters künstlerische Produktivität nahm immer wieder Auszeiten, Phasen, denen unverkennbar der Anschein sich heftig entfaltender Krisen anhaftete. Ich hatte dann den Eindruck, dass es ihm in solchen Abschnitten schwer fiel, sich angesichts all der Gewichte, mit denen sich Körper und Seele beschwerten, alltagstauglich über Wasser zu halten und die Lust am selbstzerstörerischen Exzess unter Kontrolle zu bringen. Es war dann, als zöge ein Unbewusstes einen Großteil der ihm zu Gebote stehenden Energien ab und versammelte diese auf einen Prozess, den die Psychoanalyse mit dem Begriff „Integration“ zu erklären versucht.

Diesen Prozess beschreibt C.G. Jung in einem interessanten Vortrag, den er 1922 in Zürich gehalten hat.1 Danach integriert ein solcher Prozess, der unter bestimmten Bedingungen das „Kunstwerk“ hervorbringen kann, in einem vielfach sich wiederholenden ersten Schritt alle dunklen Seiten der Persönlichkeit, die aus verschiedenen Gründen (noch) nicht vom Individuum angenommen wurden – C.G. Jung nennt sie „Schatten“ - in die Persönlichkeit, was beträchtliche seelische Anpassungsleistungen erfordert. In einem zweiten Schritt vollzieht sich nach Jung die Integration der eigenen Anteile des jeweils anderen Geschlechts (Anima und Animus) und eröffnet im Weiteren den Weg zur Berührung des Selbst mit dem so genannten kollektiven Unbewussten, also den Erfahrungen und Erinnerungen der gesamten Menschheit, die als Archetypen im genetischen Code des Menschen verankert sind und in Bildern, Motiven und Symbolen in Erscheinung treten können.

Im Verlauf dieses Individuationsprozesses2 kann es zur Herausbildung eines so genannten autonomen Komplexes kommen: Autonomer Komplex deshalb, weil im Prozessverlauf eine Region der Psyche mit hoher autonomer und insbesondere konfliktiver Dynamik in Tätigkeit versetzt wird, um in einen befreienden Urteilsakt zu münden, der sich auch als schöpferische Leistung manifestieren kann.
Ein solcher autonomer schöpferischer Komplex artikuliert sich, wenn es denn an der Zeit ist, über eine so genannte Schaffensperiode hinweg und kreiert im Falle Christian Stichters als Produkt das Bild.
Die Schaffensperiode findet in Stichters Atelierkeller des Nachts statt, vollzieht sich in dramatischen Nacht-Wachen, die als aus der Leinwand brechende Auseinandersetzung mit den Konfigurationen des archetypischen Potentials3 abgebildet erscheinen - in oft erddunklen Farben mit grellen Einsprengseln und Farbtränen, die ihre bittere Spur über verwundete Körper und Antlitze hinweg ziehen.

Wenn, so Jung, die Quelle eines vollendeten Werks im persönlichen Unbewussten des Hervorbringers oder Autors zu suchen ist (Freud würde das als Purgiermethode bezeichnen), wird uns das Werk vielleicht dann anrühren, wenn die persönliche Symptomatik von uns aufgespürt und nacherlebt werden kann. Im anderen Fall nehmen wir das Produkt allenfalls zur Kenntnis.

Ganz anders, wenn uns das Werk begegnet als kunstvoll ins Bild gesetztes Resultat einer Belebung des kollektiven Unbewussten, als Erfahrung des Moments, in dem nach Jung die „mythologische Situation“ eintritt. Dieses Bild ist der Analyse zugänglich, soweit wir es als Symbol erkennen und auf ein urtümliches Bild des kollektiven Unbewussten zurückführen können. Somit würde der schöpferische Prozess in einer unbewussten Belebung des Archetypus und in einer Entwicklung und Ausgestaltung desselben bis zum vollendeten Werk bestehen.
Nach Jung ist jede Beziehung auf den Archetypus „rührend“, das heißt sie wirkt und bewirkt etwas: Der Künstler, der „mit Urbildern spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich erhebt er das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen und Vergänglichen in die Sphäre des immer Seienden, er erhöht das persönliche Schicksal zum Schicksal der Menschheit, und dadurch löst er auch in uns alle jene hilfreichen Kräfte, die es der Menschheit je und je ermöglicht haben, sich aus aller Fährnis zu retten und auch die längste Nacht zu überdauern.“

Ich selbst erfahre in der betrachtenden Konfrontation mit den Bildern Stichters bis heute und jedes Mal fast unmittelbar diesen Moment der Ergriffenheit und Berührung, der nicht (nur) darauf zurückzuführen ist, dass technisches Können meine Bewunderung erweckt oder ich das Bild mit dem Freund verbinde. Nein, es ist als würde mir beim Betrachten des Bildes das Wort von Gerhard Hauptmann: „Dichten heißt, hinter Worten das Urwort erklingen lassen“ in die Kunstform der Malerei übersetzt.
So schwer es ist, den Klang des „Urwortes“ zu vernehmen, zu erspüren, so schwer ist es auch, sich den Bildern Stichters anzunähern, wie der Kunsthistoriker Dr. Markus Josef Maier in singulären und beachtenswerten Kommentaren4 zu einigen Bildern Stichters feststellt. Die Bilder wagen nicht nur den „spannungsreichen Bruch mit den Vorbildern“ der europäischen Maltradition, sondern fordern durch diesen Bruch auch eine Reflexion heraus, die es wagt, den Blick über das Bild nach innen zu richten und sich die Frage zu stellen: Wer bin ich außer dem, was ich ohnehin von mir selber weiß? Ein erster Blick auf die „Schlafende Venus“ z.B. und die verfremdend gesetzte Bildunterschrift zeigt in verstörender Weise die Differenz zwischen dem Trugbild Wirklichkeit (tradierter Erwartungshorizont) und der ausgreifenden Reduktion auf das Symbolische. Das Bild löscht den Körper und die Phänomene des Leibes bis auf Elemente, die durch die mögliche Erahnung der Vorlage die Wucht der Konfrontation multiplizieren und die Suche nach den Differenzmarkern zur anrührenden Findung des Bildes im eigenen Selbst geraten lassen. So spiegelt die mimetische Differenz den Denk- und Erfahrungsraum des Rezipienten als Versuch einer vorahnenden Eröffnung neuer Erfahrungen.
Was kann Kunst mehr leisten?

Walter Benjamin hat diesen Prozess der Bildgenerierung und glückhaften Kommunikation mit dem Betrachter in ein Sonett5 verdichtet, mit dem ich schließen möchte:

	Sonett Nr. 55

	Ich bin ein Maler der aus Schatten
	Das wunderbarste Bildnis malt
	Und teurer seine Farben zahlt
	Als andre ihre vollen satten
	Wenn keiner mehr von ihren prahlt
	Erglühen doch die meinen matten
	Wie über schwere Grabesplatten
	Ein altes Mosaik erstrahlt
	Und doch steht Nacht vor meinen Augen
	Von Tränen deckt sie ein Visier
	Sie müssens aus dem Innern saugen
	Mit sehnsuchtstrunkener Begier
	Dann wird es als ein Urbild taugen
	Dir selber ähnlich ähnlich mir